Forum Migration 2019

24. Forum Migration

„Aktueller Extremismus - Gefahren für unsere Gesellschaft“

 

Ca. 400 Interessierte aus Bundes- und Landtagsfraktionen, Bundes- und Landesministerien, aus Städten und Gemeinden, Kirchen und Religionsgemeinschaften, Wohlfahrtsverbänden, Bildungseinrichtungen, Integrationszentren, Jugendmigrationsdiensten, Jobcentern und Universitäten kamen zum 24. Forum Migration der OBS am 5. Dezember 2019 in die Stadthalle Bonn-Bad Godesberg. Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Politik diskutierten zum Thema „Aktueller Extremismus – Gefahren für unsere Gesellschaft“.

Dr. Lothar Theodor Lemper, der Geschäftsführende Vorsitzende der OBS, begrüßte die Teilnehmenden. Er führte aus, dass die zunehmende Verrohung und Aggressivität des öffentlichen Diskurses Wasser sei auf die Mühlen extremistischer und zum Teil gewaltbereiter Personen; die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke durch einen rechtsextremistischen Täter und der Mordanschlag auf jüdische Mitbürger in der Synagoge in Halle bildeten einen traurigen Höhepunkt dieser besorgniserregenden Entwicklungen. Die Gesellschaft müsse hierauf Antworten finden. Er wünschte den Teilnehmenden interessante Einsichten, auch wenn „die Entschleierung der Wahrheit ohne Divergenz der Meinungen nicht denkbar ist“ – wie Alexander von Humboldt formulierte.

Am Vormittag beleuchteten drei renommierte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Begriffe Extremismus und Radikalisierung aus verschiedenen Perspektiven. Prof. Dr. Andreas Zick, Leiter des Instituts für interdisziplinäre Konflikt und Gewaltforschung (IKG) an der Universität Bielefeld, sprach zum Thema „Radikalisierte Mitte? Toleranz und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit in Deutschland“. Seine Kernthese lautete: Gesellschaften, die dem Modell einer starken Mitte folgen, müssen ständig die Herausforderungen zur Herstellung von Gleichwertigkeit identifizieren und Normverschiebungen verstehen, um Konflikte regulieren zu können. Hierbei ist das gesellschaftliche Klima für den Zusammenhalt relevant und dabei insbesondere die Frage, in wieweit destruktive radikale und extremistische Meinungen und Ideologien in die Mitte eindringen, sich die Mitte an den Rand begibt bzw. sich radikalisiert. Radikalisierung, so führte Prof. Zick aus, ist ein sozialer Prozess, der zu einer extremen Polarisierung von Überzeugungen (Ideologien) und Verhaltensweisen führt, die mit der gesellschaftlichen Norm inkonsistent sind. Vorurteile bzw. gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit (Ideologie der Ungleichwertigkeit) sind Schemata, mit denen der einzelne durch die Welt geht. Nach Krisenzeiten steigt die Menschenfeindlichkeit – verursacht durch Benachteiligungsgefühle und Furcht vor sozialem oder wirtschaftlichem Abstieg. Erschreckend sind Umfrageergebnisse, dass Vorurteile gegenüber Asylsuchenden bei 54% der Bevölkerung vorhanden sind. Die Wahlerfolge der AfD sind dort am größten, wo die Arbeitslosigkeit hoch und der Ausländeranteil gering ist. Und in Regionen mit AfD-Wahlerfolgen erfolgen im Wahljahr signifikant mehr Hasstaten gegen Geflüchtete. Wichtig ist deshalb – so das Fazit von Prof. Zick – Integrationspotenziale und zivilgesellschaftliche Kräfte zu erkennen, zu stärken und hierfür zivile Räume zu schaffen.

Prof. Dr. Christopher Daase, Goethe-Universität Frankfurt a.M., Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung, Frankfurt a.M., sprach zum Thema „Was heißt Radikalisierung? Anmerkungen zu einem umstrittenen Begriff“. Prof. Daase definiert Radikalisierung als Prozess, an dessen Ende Gewalt als Mittel politischen Handelns steht. Festzustellen ist laut Prof. Daase eine globale Krise des Politischen – rechts, links, im religiösen Spektrum. Radikalisierung ist die zunehmende Infragestellung einer politischen Ordnung, eine Veränderung des Sag- und Denkbaren. Im Unterschied hierzu beschreibt Extremismus einen statischen Zustand, die Fixierung einer politischen Position. Ursachen für Radikalisierung können Gefühle der Überfremdung sein, eine Gegnerschaft gegen einen liberalen Lebensstil, gegen Globalisierung, Kapitalismuskritik. Der Weg zwischen legal und illegal beschreibt den Weg der Radikalisierung. Derzeit auffallend sind, wie Prof. Daase ausführt, die zunehmende Hetze und die schleichenden Prozesse der Rekrutierung. Positiv ist, dass der Verlauf der Radikalisierung flexibel und damit umkehrbar ist.

Michaela Glaser, Frankfurt University of Applied Sciences, Kompetenzzentrum Soziale Interventionsforschung, Frankfurt a.M., befasste sich in ihrem Beitrag mit „Politisch-weltanschaulichem Extremismus im Jugendalter“. Michaela Glaser ging der Frage nach, warum sich junge Menschen politisch extremen Strömungen anschließen; es gibt biografische, gruppendynamische Ursachen und/oder desintegrative Erfahrungen. Jugendliche, die sich rechtsextremistischen Strömungen anschließen, sind zwischen 13 und 14 Jahre alt; die, die sich islamistischen Strömungen anschließen, zwischen 16 und 19 Jahre alt. Beide Richtungen bedienen sich jugendkultureller Stilelemente (Musik, Kleidung, Internet).
Motive der Jugendlichen sind:
• die Suche nach Sinnstiftung/Orientierung
• die Suche nach Gemeinschaft/Zugehörigkeit
• provokante Abgrenzung
• der Wunsch, etwas zu bewegen

Jugendliche sind empfänglich für Angebote extremistischer Gruppen, weil sie sich in einem Ablösungs- und Neuorientierungsprozess befinden und somit eine erhöhte Bereitschaft zum Probehandeln, einen größeren Veränderungswillen haben. Michaela Glaser betonte, dass die Motive für eine Hinwendung zum Extremismus auch wichtige Hinweise für die Präventionsarbeit geben können. Abschließend mahnte sie zu Gelassenheit, da sich viele Jugendliche auch wieder von extremistischen Weltanschauungen abwenden.

In der anschließenden Publikumsdiskussion wurde die zunehmende Sichtbarkeit von Ungleichheit, Ungerechtigkeiten, Orientierungslosigkeit und Segregation angesprochen. Die Bindung an gesellschaftliche Institutionen gehe verloren. Aber nur eine starke Zivilgesellschaft mit chancengerechter Teilhabe kann Radikalisierungs-Tendenzen entgegentreten. Politischer Bildung komme hierbei eine entscheidende Rolle zu. Michaela Glaser betonte, dass z.B. „aktive Partizipationserfahrungen“ in der Schule sehr wichtig seien. Gefragt werden müsse, was unsere Gesellschaft zusammenhält. Prof. Daase regte an, nicht nur die Medienkompetenz der Jugendlichen in den Blick zu nehmen.

Den zweiten Teil der Veranstaltung eröffnete Burkhard Freier, Ministerialdirigent im Ministerium des Inneren NRW und Leiter des Verfassungsschutzes NRW mit seinem Vortrag „Aktuelle Extremismus-Tendenzen in NRW und Möglichkeiten der Prävention“. Der Verfassungsschutzleiter beschrieb zu Beginn seiner Ausführungen die vier unterschiedlichen Extremismus-Bereiche: Rechts- und Linksextremismus, ausländerbezogener Extremismus und Salafismus. Der Verfassungsschutz wird aktiv bei Bestrebungen, die unsere Grundrechte gefährden. Burkhard Freier bestätigt den Eindruck einer zunehmenden Verrohung der Diskurse und der Zunahme von Gewalt gegen Personen. Der Verfassungsschutz beobachtet auch eine zunehmende Vernetzung (auch international) innerhalb der einzelnen
extremistischen Gruppen. Die extremistischen Gruppen wollen ihre Stigmatisierung loswerden und in die Mitte der Gesellschaft gelangen. Abschließend gibt Burkhard Freier einen Überblick über die präventiven Maßnahmen des Verfassungsschutzes wie die Projekte Wegweiser, Spurwechsel, API, VIR und left, die Hilfestellung zum Ausstieg aus der Szene bieten. Die Hauptklientel dieser Maßnahmen ist zwischen 12 und 21 Jahre alt.

In der anschließenden Diskussionsrunde „Aktuelle Entwicklungen des Extremismus – Gefahren für unsere Gesellschaft“ befassten sich vor allem die Politikerinnen und Politiker mit den Chancen präventiver Maßnahmen sowie den gesellschaftlichen Möglichkeiten zur Bekämpfung des Extremismus.

An der Diskussionsrunde nahmen teil:
/ Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau, MdB, Die Linke
/ Gerhart Baum, Bundesinnenminister a.D., FDP
/ Wolfgang Bosbach, MdB a.D., CDU, ehemaliger
Vorsitzender des Innenausschusses
/ Helge Lindh, MdB, SPD, Ausschuss für Inneres und Heimat
/ Monika Düker, MdL, Fraktionsvorsitzende Bündnis 90/ Die
Grünen im Landtag NRW
/ Burkhard Freier, Leiter des Verfassungsschutzes NRW

Alle Beteiligten waren sich einig, dass durch das Internet Hasskommentare, Hetze usw. schneller und breiter gestreut werden.

Petra Pau berichtete, dass sich allein die Zahl rechtsextremistischer Gewalttaten 2019 verdoppelt habe: Seit dem letzten NSU-Mord gab es 19 Tote. Sie plädierte dafür, die vorhandenen Strategien und Werkzeuge zur Bekämpfung von Extremismus zu überprüfen (Stichwort Online-Streetworker). Es gehe um Prävention, De-Radikalisierung und Aufklärung. Sorge bereite ihr, dass sich die AfD zunehmend in den Institutionen unserer Gesellschaft verankere.

Gerhart Baum, Bundesinnenminister a.D., beschrieb Veränderungen in der Gesellschaft, die gefährlich werden könnten für den demokratischen Zusammenhalt: Ängste, Unsicherheiten, Einsamkeit, Ohnmachtsreaktionen, verachtete Minderheiten u.v.m. Es stelle sich die Frage, wie gehen wir damit um? Wichtig sei Zuhören und das Wissen, dass Menschen Orientierung brauchen.

Monika Düker, MdL, stellte in ihrem Statement fest, dass in der Mitte der Gesellschaft eine Demokratie-ablehnende Gruppe existiere; die AfD habe Kontakte zur Identitären Bewegung. Wichtig sei, dass die Politik Institutionen verteidige und vorhandene Vollzugsprobleme beseitigt werden.

Helge Lindh, MdB, konstatierte, dass mit Mitteln der Demokratie die Demokratie in Frage gestellt wird. Er plädierte für eine dauerhafte Demokratie-Förderung (Zustimmung von Monika Dücker, MdL: leider brauche es die strukturelle Verankerung in einem Demokratiefördergesetz).

Wolfgang Bosbach, MdB a.D., bestätigte die Beobachtung der Wissenschaft, dass sich extremistische Gruppierungen einen bürgerlichen Habitus zulegen, um in die Mitte der Gesellschaft zu wirken. Er gab zu bedenken, dass Angriffe auf die Demokratie scheitern, wenn sie genügend Verteidiger hat. Die Diskussion mit dem Publikum drehte sich um die Fragen, in welcher Form die Auseinandersetzung mit der AfD erfolgen und wie man Kinder bereits im Kindergarten stärken könne: „Starke Kinder brauchen keinen Führer“, so Monika Dücker, MdL. V.a. wurde für eine Verstärkung der politischen Bildung für Jugendliche als Aufgabe des Staates und der Bildungsinstitutionen plädiert („Demokratie hautnah erleben“).

Peter Biesenbach, Minister der Justiz des Landes Nordrhein-Westfalen, sprach abschließend zum Thema „Offene Gesellschaft und Rechtsstaat versus Extremismus – Wie sollen Staat und Gesellschaft handeln?“ In seinem Vortrag umriss der NRW-Justizminister die Herausforderungen, die sich durch Angriffe auf die Demokratie ergeben: Kritik müsse der Rechtsstaat aushalten, aber „Hass ist keine Meinung“ und muss rechtsstaatlich verfolgt werden. Minister Biesenbach listete eine Reihe von Maßnahmen auf, mit denen sein Haus Rechtsbewusstsein stärken will: z.B. sollen Recht-AGs an allen Schulen NRWs etabliert werden; es gibt zahlreiche Angebote der Wertevermittlung; NRW hat eine zentrale Anlaufstelle für Hate Speech – auch sollen die Möglichkeiten geprüft werden, Hate Speech durch den Einsatz Künstlicher Intelligenz zu verhindern. Der Minister rief zum Schluss dazu auf, sich um die Menschen in der eigenen Umgebung zu kümmern, da sozial isolierte, erfolglose Menschen empfänglich für Radikalisierung sind.

 

Die ausführliche Dokumentation der Veranstaltung können Sie hier herunterladen.

 

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